WG83 – Briefreinschrift an Alma Mahler
Wien, Samstag, 15. Oktober 1910
Mein Lieb,
auf Deinen Brief, der
Donnerstag Nachmittag
bei mir eintraf, war
es selbstverständlich, daß
ich abfuhr. Konntest Du
nicht telegrafieren?
Ich hinterließ überall
meine Adresse und
telegrafierte nach allen
Richtungen dringend
für den Fall daß Du
mir einen Abwink
geben solltest.
Ich fuhr Dir bis Salz-
burg entgegen, Du warst
nicht im Zuge. Oh diese
Gedankenflucht! –
Ich wollte nichts un-
versucht lassen, fuhr
deshalb in der Nacht
hierher. Meine Briefe,
sehe ich, sind abgeholt,
dies Telegramm lag
noch da. Auf dem Reise-
büro erfahre ich daß
Ihr noch nicht abgefahren
seid, so hoffe ich, Dich
noch irgend wo eine
Sekunde zu sehen.
Gieb sofort Nachricht
postlagernd
Kärntnerring 3.
Schneiderin?
Ich liebe Dich endlos!
Nichts ist mir zu schwer
für Dich, ich wollte nichts
unversucht lassen um
Dir noch einmal die
Hände zu küssen.
Dein .
wie anders bin ich heut
als neulich in Wien,
man wird härter im Feuer
Apparat
Überlieferung
, , , .
Quellenbeschreibung
2 Bl. (3 b. S.) – unbedrucktes Briefpapier, Tinte.
Druck
Erstveröffentlichung.
Korrespondenzstellen:
keine.
Datierung
Die Datierung dieser Briefreinschrift ergibt sich hauptsächlich durch den Inhalt, außerdem durch die nachfolgende Korrespondenz. Wie in AM40 vom 7. Oktober 1910 verabredet, wartete WG in München auf den Orientexpress, in den AM in Wien hätte zusteigen sollen, um mit ihr zusammen weiter nach Paris zu fahren. Da der Zug nicht eintraf (s. WG84 vom 15. Oktober 1910: gestern std. Verspätung), sorgte sich WG so sehr, dass er den nächsten Zug nach Salzburg nahm, in der Hoffnung dort den Orientexpress mit AM abzupassen. Zwar stand dort der entsprechende Zug, jedoch ohne AM an Bord, weshalb er in der Nacht vom 14. auf den 15. Oktober nach Wien weiterreiste. Die vorliegende Briefreinschrift ist damit auf den 15. Oktober 1910 zu datieren.
Übertragung/Mitarbeit
(Marie Apitz)
(Bettina Schuster)
auf Deinen Brief – AM40, zwar am Freitag, den 7. Oktober 1910 geschrieben, jedoch, wie der Poststempel belegt, erst am Mittwoch, den 12. Oktober abgeschickt (s. Datierung von WG82 vom frühestens 9. Oktober 1910).
daß ich abfuhr – Demnach hielt sich an die Abmachung, am 14. Oktober 1910 in München dem Orientexpress von Wien nach Paris zuzusteigen, um mit zusammen zu reisen, s. AM38 vom 29. September 1910 und AM39 vom 3. Oktober 1910.
Abwink – Gemeint ist eine Absage.
hierher – Nachdem nicht in Salzburg im Orientexpress angetroffen hatte, fuhr er in der Nacht vom 14. auf den 15. Oktober nach Wien weiter.
dies Telegramm – nicht überliefert.
Kärntnerring 3 – Dort befand sich das Hotel Bristol, dessen Adresse und schon im Juli, s. WG6 vom 17. und 18. Juli 1910, und September 1910, s. AM35 vom 19. September 1910, angegeben hatten, um unbemerkt in Verbindung zu bleiben.
Schneiderin? – Offenbar hoffte , dass der Haute-Couture-Salon der Schwestern Flöge in der Casa Piccola noch einmal als Alibi für ein Treffen fungieren könnte wie bereits einen Monat zuvor, s. AM28 vom 3. September, WG72 vom 13. September und WG73 vom 16. September 1910.
Mein Lieb, […] Feuer – Da es sich bei WG83 um eine Tintenfassung mit Anrede und Unterschrift handelt, die keinerlei Korrekturen aufweist, ist anzunehmen, dass es sich um eine Reinschrift handelt. In diesem Fall liegt möglicherweise sogar ein Brief vor, der nicht abgeschickt wurde. Denkbar wäre dabei, dass den Brief gerade beendet hatte, als er Nachricht von erhielt (AM41 vom 15. Oktober 1910) und sich dann dafür entschied, ihr bei einem persönlichen Treffen all das zu erzählen, was er zuvor in seinem Brief mitteilen wollte. Da hier schrieb Ich […] telegrafierte nach allen Richtungen, ist anzunehmen, dass bereits wusste, dass sich in Wien aufhielt.